Gebäude als Zeitmaschinen in „Jimmy Corrigan“

Das deutsche Cover von Chris Wares Jimmy Corrigan
Jimmy Corrigan

„Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“ erzählt die Geschichte des verängstigten Büroangestellten Jimmy, dessen Leben durch die plötzliche Kontaktaufnahme des in der Kindheit verschwundenen Vaters aus den Fugen gerät. Der Comic bietet zahllose Aspekte, über die es sich lohnt zu schreiben – allein mit dem Buchumschlag der Hardcoverausgabe könnte man sich Tagelang beschäftigen. Ich will mich darauf konzentrieren, wie der Autor und Zeichner Chris Ware mit Hilfe von grafischen Elementen wie Gebäuden zwischen den verschiedenen Zeitebenen der Erzählung wechselt.

Der Chicago Water Tower als Tor in die Vergangenheit

Der erste dauerhafte Wechsel der Erzählung von Jimmys Gegenwart (ca. 1980er) und Kindheit (1950er?) zur Kindheit seines Großvaters (um 1893) findet zwischen Seite 73 und 74 statt.* Das Besondere an diesem Zeitwechsel ist, dass er sich bereits auf Seite 62 ankündigt. Chris Ware nutzt die grafischen Möglichkeiten des Mediums Comic, um mit Hilfe des Bildes eines bestimmten historischen Gebäudes den Wechsel der Zeitebenen vorzubereiten und zu begleiten. Das grafische Element seiner Wahl ist der Chicago Water Tower.

Der Chicago Water Tower als Tor in die Vergangenheit
Klick!

Die lange Reise in die Vergangenheit beginnt auf Seite 62. Jimmy erwacht morgens in dem ihm fremden Apartment seines Vaters, als dieser von einem Einkauf zurück kehrt. Wer genau hinschaut, kann neben der Wohnungstür ein Poster mit der Aufschrift „C.H.I.C.A.[G.O]“ erkennen (siehe oben, Bild 1). Das Poster zeigt stark stilisierend wichtige architektonische Landmarken der Innenstadt von Chicago. Aufmerksame Leser können unter den dargestellten Wolkenkratzern den Willis Tower erkennen (formals Sears Tower, Wikipedia), dessen Silhouette bereits in zahlreichen Blicken aus dem Fenster von Jimmys Wohnung in Chicago zu sehen war. Nichtsdestotrotz gerät das Poster für die nächsten sieben Seiten wieder aus dem Blick des Betrachters, während sich die Geschichte erneut den Peinlichkeiten und Ängsten der Beziehung zwischen Vater und Sohn widmet. Dies ändert sich auf Seite 68. Das erste und zugleich größte Panel zeigt eine Detailansicht des Chicago-Posters, auf dem nun eindeutig der Willis Tower sowie andere Wolkenkratzer Chicagos zu erkennen sind (Bild 2). Unter den verschiedenen Gebäuden fällt ein Turm im Vordergrund auf, der sich durch seine historisch anmutende Architektur und seine geringe Größe von den umliegenden Wolkenkratzern deutlich unterscheidet. Hierbei handelt es sich um den 1869 erbauten Chicago Water Tower (Wikipedia). Dass das Poster für die Geschichte keine rein dekorative Aufgabe erfüllt, wird nicht nur durch die Größe und Position des Panels unterstrichen: Auf derselben Seite noch wendet sich Jimmy dem Poster zu und scheint sich besonders für den Water Tower im Vordergrund zu interessieren (siehe Detailausschnitt, Bild 3). Kurz darauf (Seite 69) kommt Jimmys Vater aus dem neben dem Poster gelegenen Bad. Statt über ihre Gefühle und Ängste zu reden, entspinnt sich ein Alltagsgespräch, in dem der Vater unter anderem das Interesse Jimmys für das Poster aufgreift (Bild 4) und so vielleicht eine gewisse Nähe herstellen will: „OH… THE POSTER“ / „HA HA“ / „YEAH, IT’S A GOOD ONE, ISN’T IT? A REAL ‚CLASSIC‘ „.

In der nächsten Szene auf Seite 70 ist Jimmy in Gedanken versunken, während sein Vater duscht. Von einem noch am Couchtisch klebenden Preisschild ausgehend, überlegt er wie wohl der Möbeleinkauf seines Vaters ausgesehen haben mag, bevor dieser das Apartment bezogen hat (Bild 5). Eine der vier Denkblasen stellt dar, wie Jimmys Vater sich unter diversen Postern für das Chicago-Poster entscheidet. Erkennbar ist nur der Willis Tower. Drei Seiten später (Seite 73) sitzt Jimmy immer noch am gleichen Fleck. Er scheint immer noch von dem in der Zwischenzeit mitgehörten Anruf traumatisiert zu sein, durch den er zufällig von der Existenz seiner Halbschwester erfahren hat. Emotional enorm unter Druck stehend, baut Jimmy den Beginn des Anrufs („HI DAD!“) nun in einige Bildmotive ein, die er mit seinem Vater assoziiert. Eines der Bildmotive ist ein Ausschnitt des Chicago-Posters, das nun statt dem Stadtnamen den Schriftzug „H.I . D.A.D“ trägt (Bild 6). Der Ausschnitt ist so gewählt, dass nur der Chicago Water Tower ganz zu sehen ist. Jimmy gerät daraufhin derart in Panik, dass er aus der Wohnung flüchtet.

Mit dem Abgang Jimmys wechselt die Erzählung ohne Vorwarnung in das Jahr 1892 (?). Seite 74 zeigt Szenen aus einer Kutschfahrt, in der sich eine große und eine kleine Gestalt über einen Comic Strip unterhalten. Ihre Gesichter liegen wie ihre Identität im Schatten. Die Orientierungslosigkeit des Lesers wird erst auf Seite 75 zum Teil aufgelöst. Das die ganze Seite einnehmende Splash Panel zeigt einen grünen Platz in der Nähe eines Sees, der von zahlreichen historischen Gebäuden eingerahmt wird. Mit etwas Assoziationskraft kann der imposante Turm in der Mitte als der Chicago Water Tower aus dem Poster wiedererkannt werden (Bild 7), auch wenn die fehlende Stilisierung und die Seitenperspektive dieses Unterfangen erschwert. Neben der historischen Architektur und der in das Bild fahrenden Kutsche, ist die Kleidung der Passanten ein weiteres Indiz dafür, dass die Erzählung sich in die Vergangenheit verlagert hat und dies nicht nur ein weiterer Tagtraum von Jimmy ist. Die Frage nach dem Ort des Geschehens wird unterhalb (!) des Splash-Panels noch einmal von dem unbekannten Sprecher in der Kutsche aufgegriffen: „HMM? THEN WHERE WOULD WE BE?“
Diese Frage, falls vom Leser noch nicht selbst beantwortet, wird auf Seite 76 geklärt. Das erste und größte Panel zeigt die Detailansicht einer historischen Werbetafel, auf der in großen Buchstaben das „Chicago of To-Day“ als „The Metropolis of THE WEST“ angepriesen wird (Bild 8). Als Vorlage diente Chris Ware wahrscheinlich die Buchillustration aus dem Katalog zur World’s Columbian Exposition (archive.org), an der er jedoch einige Details änderte: So ist z.B. die rechte Brust der im Vordergrund sitzenden Columbia entblößt und ihre Augen sind verbunden. Für die Untersuchung des Chicago Water Towers noch wichtiger ist jedoch Wares Abänderung der Stadtansicht im Hintergrund. So sind im Comic neben der Skyline der Chicagoer Innenstadt zusätzlich am Horizont auch die Außenbezirke der Stadt zu sehen – darunter auch ein nur wenige Millimeter großer Turm, der als Chicago Water Tower identifiziert werden kann (siehe Ausschnitt, Bild 9). Der eine Seite zuvor geschürte Eindruck, der Water Tower besäße eine beachtliche Größe, wird durch die Werbetafel ins Negativ verwandelt. Bereits in der Kindheit von Jimmys Großvater stand der Chicago Water Tower lediglich im Schatten der damals schon in die Höhe schießenden Wolkenkratzer.

Fazit

Ich habe an Hand des Chicago Water Towers versucht deutlich zu machen, wie Chris Ware architektonische Merkmale in seinem Narrativ verwendet. Dabei steht der Chicago Water Tower natürlich nicht allein: Weitere Gebäude, die die einzelnen Narrative (und Zeitlinien) verbinden, sind der Willis Tower, Jimmys Haus, die Straßenecke in der sich „Super-Man“ in den Tod stürzt und natürlich das Hauptgebäude der World’s Columbian Exposition. Wer genau hinschaut, kann sogar die Zerstörung des ‚Super-Man‘-Gebäudes im Amerikanischen Bürgerkrieg entdecken.

Der Rückgriff auf Gebäude als narrative Elemente geschieht meiner Meinung nach nicht zufällig. Wie oben angesprochen, können architektonische Bauten dem Leser sowohl räumlich wie auch zeitlich als Orientierungspunkt dienen. (Mit räumlicher Wahrnehmung beschäftigt sich auch mein Beitrag über Manhattan Projects.) Des Weiteren helfen Wiederkehrende Elemente wie Gebäude (aber auch der rote Vogel, der Baum vor Jimmys Haus und das Pferd) die einzelnen Episoden des Comics auch ungeachtet ihrer Zeitebenen zu einem Gesamtwerk zu verweben. Ware nutzt hier die oft auch unbewusste Aufnahme von Motiven durch das Auge. Zum Vergleich: Während Romane durch die lineare Lenkung der Aufmerksamkeit es schwer haben den Leser an solchen Details vorbei zu führen, fehlt im Film meist die Zeit für einen derartigen Einsatz von Motiven. Das Medium Comic bietet hier mehr bzw. subtilere Möglichkeiten, wie dieses Werk sehr schön zeigt. Zu guter letzt spiegeln die Gebäude auch die Vergänglichkeit des Lebens bzw. das Voranschreiten der Zeit wieder, sind sie doch die wenigen Fixpunkte in den alltäglichen und oftmals belanglos erscheinenden Leben von Jimmy und seinem Großvater. Wer in diesen Konstanten jedoch einen Funken Hoffnung zu erkennen glaubt, irrt. Dass auch Architektur nicht für die Ewigkeit gemacht ist, wird dem Leser bereits auf Seite 8 deutlich vor Augen geführt: In einer unbestimmten Zukunft wird auch das von Jimmys Urgroßvater erbaute Haus dem Erdboden gleich gemacht.

*: Das von mir benutzte amerikanische Hardcover (Jonathan Cape, 2001) enthält keine Seitenzahlen. Ich habe die Seitenzahlen deshalb per Hand ermittelt; inklusive der Gebrauchsanweisung im Einband.

Postskriptum: Wer Jimmy Corrigan noch nicht gelesen hat, sollte dies schleunigst nachholen! Die liebevoll gestaltete deutsche Ausgabe von „Jimmy Corrigan – The smartest kid on Earth“ ist seit 2013 bei Reprodukt erhältlich. Dass es bei einem Comic wie diesem mit übersetzen, copy, paste nicht getan ist, machen die Werkstattberichte zu den Themen Lettering, Korrektur und Druck deutlich. Die offizielle Leseprobe zu Jimmy Corrigan zeigt auf den Seiten 12 und 13 übrigens eine erste kurzweilige Reise in die Zeit von Jimmys Groß- bzw. Urgroßvater. In diesem Fall spielt Jimmys Haus eine wichtige Rolle.

3 Kommentare

  1. Das war der erste Artikel aus der Rubrik „Querschnitt“. Wie hat er euch gefallen? Ich bin gespannt auf eure Kommentare – auch zu dem Schaubild ganz oben!

  2. Schön die Linearität der Comic-Seiten-Erzählung in eine andere Transformiert – und dies noch mit Gewinn. Demnach erfüllt das Schaubild ganz wunderbar seinen Zweck: Es strukturiert Deinen Text.

  3. @Alexander: Danke für dein Feedback! Ideal wäre natürlich eine sehr breite (HTML)-Seite gewesen, mit dem Bild im Zentrum. Den Text könnte man dann chronologisch von links nach rechts an den jeweiligen Panels anheften. Aber ob das dann noch lesbar ist? Vielleicht ein Experiment für ein anderes Mal.

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