Von der Pflanzenheilkunde zur Konsumgesellschaft

Susan Strasser arbeitet zur Zeit an einem Buch, das den Titel Herbal Medicine in a Developing Consumer Culture tragen soll.

Ein Q History-Gespräch mit der US-Historikerin über
Pflanzenheilkunde und  Konsumgesellschaft
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Von Pflanzenheilkunde zur Konsumgesellschaft - Interview mit Susan StrasserQ HISTORY: Frau Strasser, ihre Bücher handelten bisher von weiblicher Hausarbeit, der Konsumgesellschaft und Müll. Warum das vierte nun über Pflanzenheilkunde?

Susan Strasser: Viele Menschen die nur eines der Bücher kennen sind überrascht über die anderen und können keine Verbindungen sehen. Viele andere stellen wiederum die Verbindung zwischen diesen drei Büchern und dem vierten in Frage. Für mich sind alle zusammen Herangehensweisen an eine Reihe von Fragen zur Entwicklung der modernen Konsumkultur dar, die mich schon seit Jahrzehnten beschäftigen. Mich interessiert die Verbindung unserer Privatsphäre zu Öffentlichkeit und zur Wirtschaft.

Ich muss dazu sagen, dass ich mein Buch Never Done: A History of American Housework – nun da ich mich mit Pflanzenheilkunde beschäftige – eigentlich dafür kritisieren muss, dass es kein Kapitel zur Krankenpflege enthält. Es hat Kapitel über die größten Aufgabenfelder der Hausarbeit wie Kochen, Nähen und Waschen. Doch als ich das Buch in den frühen Achtzigern geschrieben habe wusste ich nicht, wie heute, dass Pflege und Hausarzneien weit ins 20. Jahrhundert hinein bedeutende Teile der Hausarbeit waren.

Mein Buch handelt von der Kommerzialisierung der Pflanzenheilkunde

Dies gilt natürlich um so mehr für das 19. Jahrhundert: Die Menschen wurden zuhause geboren, wurden zuhause krank und starben zuhause. Eine der Aufgaben der Hausfrau war die Pflege von Kranken und Sterbenden. Das ist zunächst eine offensichtliche Verbindung zwischen meinen Büchern.

Mein jetziges Buch handelt von der Kommerzialisierung der Pflanzenheilkunde genau wie meine vorherigen Bücher die Kommerzialisierung von Hausarbeit zum Thema hatten. Mich interessiert, wie eine Produzentenkultur, eine Kultur in der Menschen Dinge herstellten – vom Abendessen bis zur Musik – , darauf kommt, dass man, um Objekte und Unterhaltung zu bekommen, Dinge kaufen muss.

Q HISTORY: Ihr neues Buch konzentriert sich auf die Entwicklungen des 19. Jahrhundert. Könnten sie diese einmal kurz für uns skizzieren?

Susan Strasser ist Historikerin und forscht nach den Wurzeln unserer heutigen Konsumgesellschaft. Zur Zeit lehrt sie an der University of Delaware und der Freie Universität Berlin.
Susan Strasser ist Historikerin und forscht nach den Wurzeln unserer heutigen Konsumgesellschaft. Zur Zeit lehrt sie an der University of Delaware und der Freie Universität Berlin.

Strasser: Nun, die Entwicklung war kompliziert, denn wir reden hier über unterschiedliche Pflanzen mit unterschiedlichen Wirkungen und unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in den USA alle möglichen Heilpflanzen in Privatgärten gezüchtet und sowohl von „layhealers“ (etwa: Laienheilern) als auch ausgebildeten Medizinern benutzt. Es war im Grunde die Hauptmedizin für jedermann.

Im weiteren Verlauf entwickelte sich der Handel mit Medizinpflanzen rapide – zunächst mit Heilpflanzen, die noch nicht stark verarbeitet oder vermengt wurden. In der Mitte des Jahrhunderts war es dann Mode die Pflanzen miteinander zu vermischen und die daraus entstandenen Arzneien unter Markennamen zu vertreiben. Diese Medikamente wurden „patent medicines“ (etwa: patentierte Medikamente) genannt.

Frauen eigneten sich nicht länger Wissen über Pflanzen an

Q HISTORY: Könnten Sie ein Beispiel nennen?

Strasser: Ein Medikament, dass ich erforscht habe, nennt sich Lydia Pinkham’s Vegetable Compound (etwa: Lydia Pinkhams Gemüsemischung). Diese Arznei wurde auf der ganzen Welt verkauft und auch produziert. Es gab Fabriken in den USA, Canada, Mexiko aber auch Europa – zum Beispiel in Spanien und Frankreich. Lydia Pinkham’s Vegetable Compound war das verkaufsstärkste Frauenmedikament seiner Zeit und bestand aus fünf verschiedenen Pflanzen.

Das führte dazu, dass Frauen sich nicht länger Wissen über einzelne Pflanzen aneigneten, sondern von dem Medikament hörten, das gegen Menstruationsbeschwerden helfen sollte, und es zu sich nahmen.

Q HISTORY: Weltweiter Verkauf, Markennamen … das klingt doch schon sehr stark nach heutigen Werbetechniken wie dem product branding.

"Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in den USA Heilpflanzen in Privatgärten gezüchtet und sowohl von Laienheilern als auch ausgebildeten Medizinern benutzt." -- Laden eines Pflanzenheilkundigen, 1910.
„Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in den USA Heilpflanzen in Privatgärten gezüchtet und sowohl von Laienheilern als auch ausgebildeten Medizinern benutzt.“ — Laden eines Pflanzenheilkundigen, 1910.

Strasser: Vollkommen richtig. Die Erfinder und Unternehmer, die patent medicines verkauften, waren Pioniere auf dem Feld der Werbeindustrie und des modernem Marketings. Sie waren es, die den modernen „branding process“ erfunden haben. Sie wollten erreichen, dass Konsumenten die Heilkraft der Medizin mit dem Namen ihrer Produkte in Verbindung bringen. Die Kunden sollten Medizin auf Grund des Markennamens kaufen, statt ihre Entscheidung von den enthaltenen Pflanzen abhängig zu machen.

Der heutige Arzt hat eine Autorität, die damals keiner besaß

Q HISTORY: Aha. Kommen wir nach den Heilpflanzen zu denjenigen, die mit diesen gearbeitet haben – den Ärzten. Was war anders am medizinischen Personal des 19. Jahrhunderts?

Strasser: Ich glaube der ausgebildete, westliche Arzt des 21. Jahrhunderts hat eine Autorität, die kein Arzt des 19. Jahrhunderts jemals erreichen konnte; und dies gilt selbst für die Absolventen der medizinischen Hochschulen der Zeit. Die Entdeckung bzw. Erfindung von chemischen und biologischen Medikamenten im 20. Jahrhundert – z.B. Antibiotika und moderne chirurgische Techniken –sorgen dafür, dass wir heute Krankheiten heilen können, die im 19. Jahrhundert unheilbar waren.

Lydia_PinkhamQ HISTORY: Ok. Aber die Ärzte waren ja nicht allein. In diversen Western taucht eine Mischung aus Barbier und Medizinmann auf, sogenannte „indian doctors“, die den echten Ärzten Konkurrenz machen. Was hat es damit auf sich?

Strasser: Indian doctors waren in der Regel Männer, ohne medizinische Ausbildung, von denen manche fälschlicherweise behaupteten von echten indianischen Heiler gelernt zu haben. Damals wie heute brachte man die amerikanischen Ureinwohner mit Natürlichkeit und den Heilkräften der Natur in Verbindung. Das war aber nicht die einzige Konkurrenz. Meiner Meinung nach stellten die bereits erwähnten Frauen als Laienheiler eine größere Herausforderung für die Ärzte dar.

Q HISTORY: Aber kann man pflanzenkundige Hausfrauen und indian doctors denn als echte Konkurrenz bezeichnen? Schließlich hatten sie doch keinerlei medizinische Ausbildung.

Strasser: Nun, was mich an diesem Forschungsfeld so sehr fasziniert ist gerade diese Verbindung von Quacksalberei und echter Heilkunst.
Ja, es gab Quacksalber. Natürlich gab es Quacksalber! Aber es gab auch sehr begabte Heiler, die keinerlei akademische Ausbildung genossen hatten und deswegen als Quacksalber bezeichnet wurden. Heiler, die in der Tat sehr viel über Heilpflanzen wussten, wie man sie findet, verwendet und verschreibt.

Aus heutiger Sicht ist es einfach über diese Menschen zu urteilen

Q HISTORY: Verstehe ich sie richtig, dass die ausgebildeten Ärzte also nicht nur in ihrer Autorität sondern auch in ihrem Können Konkurrenz hatten?

Strasser: Ja das könnte man so sagen. Ich glaube der Punkt ist, dass ohne moderne Arzneien und Chirurgie, die Ärzte des 19. Jahrhunderts einfach nicht in der Lage waren Krankheiten zu heilen wie heute. Es mag durchaus sein, dass Menschen, die die Hilfe von Laienheilern und Pflanzenkundigen gesucht haben, Heilung versprochen wurde, die nicht möglich war. Aber ich glaube, dass die Menschen genauso oft verstanden haben, dass ihre Krankheit unheilbar sein könnte, und sie deswegen lediglich irgendeine Art von Linderung gesucht haben.

Aus heutiger Sicht ist es natürlich einfach diese Menschen dafür zu verurteilen, dass sie sich Heilung von Laienheilern versprachen. Aber sie hätten noch nicht einmal von jemandem Heilung erhalten können, der einen medizinischen Abschluss der Universität von Edinburgh hatte, der damals führenden medizinischen Hochschule der Welt – weil es zu diesem Zeitpunkt ganz einfach für viele Krankheiten keine Heilung gab! Es gab keine Heilung für Tuberkulose!

Es ist also nicht gerade fair aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts auf diese Menschen herab zuschauen, dafür dass sie Linderung in Situationen suchten, von denen sie wahrscheinlich sehr gut wussten, dass sie unheilbar waren.

"Die Entdeckung von Medikamenten wie Antibiotika sorgen dafür, dass wir heute Krankheiten heilen können, die im 19. Jahrhundert unheilbar waren." - Arzt bei einer Impfung, 1943.
„Die Entdeckung von Medikamenten wie Antibiotika sorgen dafür, dass wir heute Krankheiten heilen können, die im 19. Jahrhundert unheilbar waren.“ – Arzt bei einer Impfung, 1943.

Q HISTORY: Lassen wir die Historie erst einmal ruhen und wenden uns der Historikerin selbst zu. Viele Forscher bekommen die Idee für ein neues Buch während ausgedehnter Spaziergänge oder unter der Dusche. Frau Strasser, was war ihr Aha-Moment?

Strasser: Nun ich hatte eine schlechte Erfahrung mit Antibiotika gemacht und entwickelte daraufhin Interesse an Pflanzenheilkunde, um mich selber zu behandeln. Kurz darauf frage mich eine Freundin, ob ich nicht zu einem Workshop kommen wolle, in man lernt seine eigene Medizin aus Pflanzen zu machen. Das klang interessant. Ich bin Gärtnerin und Köchin und beginne mich für Heilpflanzen zu interessieren und dachte zu mir: „Ja, da komme ich mit.“

Auf diesem Workshop hackten wir dann diverse Pflanzen, Wurzeln und Kräuter klein und weichten sie in Alkohol auf, um Tinkturen herzustellen. Unser Lehrer erklärte uns, dass Alkohol das beste Lösungsmittel für die chemische Zusammensetzung von Heilpflanzen ist, dass es am besten die Hauptbestandteile extrahiert und das es zudem konservierend wirkt. Plötzlich wurde alles was ich bisher über patent medicines gelernt hatte, in Frage gestellt.

Das war mein historischer Aha-Moment

Denn als ich patent medicines als Historikerin untersucht hatte – und ich hatte mich ein wenig damit auseinandergesetzt, da mich die Geschichte der Werbung interessiert und Werbehistoriker eine ganze Menge über die patent medicine Industrie geschrieben haben. Sie bezichtigen die Hersteller von patent medicines teilweise deswegen der Quacksalberei, weil in der Medizin Alkohol enthalten ist. Sie wissen schon: „Ha ha, natürlich wirkte das Zeug. Das Zeug wirkte, weil die Leute davon betrunken wurden, weil es 18 % Alkohol enthielt!“

Plötzlich dachte ich mir: “Vielleicht nahmen sie es doch nicht Flaschenweise sondern eher Schluck- oder Löffelweise zu sich. Es gibt einen Grund für den Alkohol – seine Eigenschaft als Lösungs- und Konservierungsmittel!“ Das war mein historischer Aha-Moment.

 "Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Hersteller von patent medicines der Quacksalberei bezichtigt, weil in der Medizin Alkohol enthalten ist." -- 'Death's Laboratory', 1906.
„Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Hersteller von patent medicines der Quacksalberei bezichtigt, weil in der Medizin Alkohol enthalten ist.“ — ‚Death’s Laboratory‘, 1906.

Q HISTORY: Gibt es denn Studien, welche die Effizienz bzw. Wirkung dieser patent medicine-Rezepte untersucht haben? Haben sie in diese Richtung geforscht?

Strasser: J… falls die Frage lauten soll, ob ich diese Medikamente getestet habe? Nein … ich meine … (lacht) … ich sehe dies zumindest nicht als meine Funktion als Historikerin an. Aber ich sehe Effektivität als eines der Bewertungskriterien des 20. Jahrhunderts gegenüber Produkten an, welches auf Medikamente ähnlich angewandt wird wie auf andere Konsumprodukte.

Q HISTORY: Sie haben vor dem Interview bereits erzählt, dass sie die Geschichte in ihrem neuen Buch jeweils an Hand von einer Pflanze pro Kapitel erzählt werden soll. Warum haben sie diese Methode gewählt und welche Pflanzen sind es?

Strasser: Die fünfzehn Pflanzen. Wollen Sie das ich sie Ihnen nenne?

Q HISTORY: Nun …

Strasser: Das kann ich schon machen. Die fünfzehn Pflanzen lauten Belladonna, Pfefferminz, Königskerzen, Aloen, Chinarinde, Kanadische Orangenwurzel, Ginseng, Opium, Sonnenhüte, Trauben-Silberkerze, Krauser Ampfer, Coca, Cannabis, Löwenzahn und Echtes Johanniskraut. Und … warum ich mich für diese Methode entschieden habe? Ich denken um mir selbst eine Herausforderung zu stellen, und in der Hoffnung, dass der Fokus des Buchs auf den Pflanzen selber bleibt.

Ich will Pflanzen als Pflanzen behandeln

Q HISTORY: … damit die Geschichte sich nicht zu sehr von ihrem Objekt entfernt?

Strasser: Ich denke ich will den Fokus meiner Leser auf den Pflanzen als Pflanzen behalten. Eine Erkenntnis, die ich während meiner eigenen Studien über diese Thema gewonnen habe, ist, dass die meisten von uns Menschen des 21. Jahrhunderts sich Pflanzen als Konsumgüter in Form von Extrakten, Pillen usw. vorstellen. Meine eigenen Untersuchungen haben mich davon überzeugt, dass es eine Sinnvolle Herangehensweise ist diese Pflanzen als Pflanzen und Pflanzenheilkunde zu betrachten.

Q HISTORY: Mit anderen Worten, damit unser konsumgesellschaftliches Denken nicht in den Weg der Geschichte gerät?

Strasser: Gut ausgedrückt, ja.

Foto: flickr, by-sa a4gpa, by The Library of Congress; Susan Strasser; wikimeadia, public domain William James, Lydia Pinkham, E.W. Kemble.