Zeitzeugen-Interviews in „Die Sache mit Sorge“

Zeitzeugen-Interviews und Spionagethriller - "Die Sache mit Sorge"
Zeitzeugen-Interviews und Spionagethriller – „Die Sache mit Sorge“

Zeitzeugen -Interviews sind im Comic eine Seltenheit. Für Isabel Kreitz‘ Agentengeschichte „Die Sache mit Sorge – Stalins Spion in Tokio“ spielen sie jedoch eine tragende Rolle. Es ist eine Zeitzeugin, die die Geschichte einleitet, es sind Zeitzeugen, die Zeit- und Ortswechsel begleiten, es sind schlussendlich Zeitzeugen, die für die Authentizität der Graphic Novel bürgen. Es gibt nur ein Problem: Die Interviews haben so nie stattgefunden.

Die Handlung 

Der Comic „Die Sache mit Sorge“ schildert die letzten Lebensjahre des Deutschen Richard Sorge, der in den 1930er Jahren in der deutschen Botschaft in Tokio arbeitet und dort für die Sowjetunion die Kriegspläne der Nazis ausspioniert. Wie Hugo Pratt in seiner „Südseeballade“ über den Ersten Weltkrieg im Pazifik schreibt, so widmet sich auch die Autorin und Zeichnerin Isabel Kreitz einem wenig beachteten Schauplatz der Weltgeschichte: der deutschen Gemeinde in Japan vor dem Angriff des Kaiserreichs auf Pearl Harbor.

Der Anspruch des Comics

Wer „Die Sache mit Sorge“ das erste Mal den Händen hält, der sieht, wie wichtig den Machern die Authentizität des Buchs war. Statt eines Farbcovers ziert eine schlichte Schwarz-Weiß-Illustration das Titelbild: Richard Sorge mit einer Frau eine japanische Straße entlang spazierend, links und rechts eingerahmt von Hakenkreuz-Lampions. Die Farblosigkeit des Titelblatts* verleiht dem Buchäußeren schon zu Beginn eine gewisse Seriosität und weckt in Verbindung mit dem Hakenkreuz Erinnerungen an ähnlich anmutende TV-Dokumentationen und Geschichtsbücher. Auch der Klappentext bläst ins gleiche Horn. Dort heißt es zwar: „Kaum ein Spion des 20. Jahrhunderts ist ähnlich legendenumrankt wie der Journalist Dr. Richard Sorge“. Einen Absatz später wird jedoch versichert, die vorliegende Geschichte sei „fernab aller Agentenklischees“. Dieser Anspruch wird auf der ersten Seite noch einmal unterstrichen, indem dort auf die „Dokumentation“ im Anhang verwiesen wird.** Schnell wird deutlich: Dies ist eine seriöse Graphic Novel mit ernstem Thema und keine klischeebehaftete Agentenklamotte à la Nick Fury oder James Bond.

Die Zeitzeugen-Interviews im Comic

Die Interviews als Erzählelement

Zeitzeugen-Interview im Comic Die Sache mit Sorge
Das erste Zeitzeugen-Interview der Geschichte: Ruth Hamburger erinnert sich an ihre Zeit in Schanghai.

Das Buch beginnt mit einem Zeitzeugen-Interview. Vor weißem Hintergrund und einem angedeuteten Nachkriegs-Wohnzimmer sitzt eine ältere Dame samt Katze, die den Leser anzulächeln scheint und mit den Worten „1930 ging ich mit meinem Mann nach Schanghai“ die Erzählung um den Spion Richard Sorge einleitet. Nach dem Umblättern findet sich der Leser in eben jener Szenerie wieder: das Botschaftsviertel von Schanghai im Jahre 1930.

Diese Seite ist typisch für „Die Sache mit Sorge“. Isabel Kreitz setzt Zeitzeugen-Interviews bewusst ein, um Handlungsstränge oder Figuren einzuführen und den Leser mit Kontextinformationen zu versorgen. So wird in den Interviews oft verraten, in welchem Jahr sich die Szenen abspielen (1930), wo sich die Charaktere befinden (Schanghai) und über bedeutende, weltpolitische Entwicklungen informiert. Auch der umgekehrte Fall kommt vor: Das Interview wird der Handlung nachgeschaltet. Die Bedeutung der Interviews für den Comic ist dabei nicht zu unterschätzen: Die Interviews sind nicht nur Erzählelemente, sondern auch Garanten für die Authentizität des Erzählten. Insgesamt sechs Zeitzeugen führen durch die Geschichte: Ruth Hamburger (2 Auftritte), Eta Harichschneider (13), Erich Kordt (4), Max und Anna Clausen (5) und Eugen Ott (1).

Wie die Interview-Atmosphäre entsteht

Isabel Kreitz bedient sich diverser, grafischer Mittel, um die Atmosphäre von Zeitzeugen-Interviews entstehen zu lassen:

  • Alle Zeitzeugen können als ältere Versionen von in der Handlung auftauchenden Figuren wiedererkannt werden. Dies schafft eine zeitliche Distanz zur Weltkriegs-Handlung und macht den Zeugen-Status der Interviewten deutlich: Die Geschichte wird von Personen erzählt, die die Geschehnisse unmittelbar miterlebt haben.
  • Alle Zeitzeugen sitzen und sind dem Leser entweder zugewandt oder schauen in Erinnerungen versunken an diesem vorbei. Hierdurch entsteht wie bei gängigen TV-Dokumentationen der Eindruck, der Zeitzeuge befände sich in einem direkten Gespräch mit dem Leser: Der Leser oder Zuschauer nimmt durch das Fehlen des Interviewers die Rolle des Fragenden ein und wird so in die Story involviert.
  • Alle Interview-Szenen haben einen ähnlichen Seitenaufbau. Statt einer Seiten ausfüllenden Illustration ist das Bild der Zeitzeugen immer von sehr viel Weißraum umgeben. Panelstrukturen kommen nicht vor. Zudem werden die Äußerungen der Zeitzeugen nicht, wie in der Handlung selbst, von Sprechblasen umrahmt, sondern stehen frei. Auch fehlt auf den Interview-Seiten die Seitennummerierung. All dies grenzt die Interviews grafisch von der Handlung in Tokio ab. Dabei fällt auf, dass gerade Comic-typsiche Elemente wie Sprechblasen und Panels gemieden werden – ganz so, als ob sich diese Merkmale des Mediums Comic nicht mit der Authentizität eines Zeitzeugen-Interviews vertrugen.

Hier könnte diese Notizen enden, wäre da nicht die Sache mit den Quellen.

Richard Sorge in Shanghai - Comicseite
Nach dem Umblättern beginnt die Geschichte: Richard Sorge im Gespräch mit Ruth Hamburger.

Die Sache mit den Quellen

Lückenhafte Zeugenschaft

Sorges japanischer Informant in Gefahr
Eine der wortlosen Szenen des Comics: Sorges Informant wird beschattet.

Schon beim ersten Lesen von „Die Sache mit Sorge “ entdeckte ich einige Ungereimtheiten im Umgang mit den Zeitzeugen-Interviews. So begleitet der Comic Richard Sorge während seiner nächtlichen Alleingänge (z.B. auf Seite 35-42), ohne das dies von einem der Zeitzeugen bestätigt werden könnte. Ein anderes Beispiel für die lückenhafte Zeugenschaft sind die Szenen, in denen das Schicksal von Sorges japanischen Informanten gezeigt wird. Diese Szenen verlaufen entweder wortlos (S. 144-146) oder spielen sich gänzlich in japanischer Sprache ab (z.B. S. 167-168). Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht. Die Authentizität der Handlung kann also nicht immer in gleichem Maße garantiert werden, wie dies zunächst den Anschein hat, denn: Auch wenn die Zeitzeugen bei vielen Szenen anwesend sind, einige Ereignisse können sie nicht miterlebt haben.

Erfundene Interviews

Noch schwerwiegender war jedoch mein Verdacht, als ich im Anhang erfuhr, dass einer der Zeitzeugen – Max Clausen – bereits 1979 verstarb (S. 252). Konnte es sein, dass die Zeitzeugen-Interviews erfunden waren? Schließlich war es unwahrscheinlich, dass die 1967 geborene Autorin Max Clausen mit 11 Jahren interviewt hatte. Auf welchen Quellen basierten die Zeitzeugen-Interviews also?
Da ich diese Frage nicht selbst beantworten konnte, schrieb ich Isabel Kreitz kurzerhand eine Mail, in der ich ihr meine Irritation schilderte. Wie vermutet hatte sie für den Comic „diverse Publikationen über Richard Sorge sowie die existierenden Autobiografien der beteiligten Personen“ gewälzt (Isabel Kreitz per Mail). So weit, so gut. Ihre Antwort auf die Frage nach den konkreten Quellen für die Interviews fiel jedoch weniger erfreulich aus:

„Die Zeitzeugen-Texte habe ich mir ausgedacht oder sie aus O-Tönen der jeweiligen Autobiografien zusammengestellt.“

Die Problematik

Isabel Kreitz‘ Umgang mit Zeitzeugen-Interviews ist meiner Meinung nach aus zwei Gründen problematisch:

1. Aus Autobiografien werden Interviews

Sowohl die Nazi-Karrieristen Eugen Ott und Erich Kordt als auch das mit dem DDR-Verdienstorden ausgezeichnete Ehepaar Clausen dürften in der Nachkriegszeit allen Grund gehabt haben, ihre Vergangenheit zu beschönigen. Doch statt die Befangenheit der Zeitzeugen zu thematisieren, vergrößert Isabel Kreitz das Problem noch zusätzlich, indem sie Teile der Autobiografien direkt in Interview-Form gießt und ihnen damit gewisse journalistische Qualitäten verleiht. Nur an einer Stelle im Comic schimmert die Befangenheitsproblematik durch, auch wenn sich dies nur auf die Interviewform bezieht. Erich Kordt versucht sich von den Spionageerfolgen Richard Sorges zu distanzieren: „Ich möchte an dieser Stelle gewisse Gerüchte entkräftigen: Sorge hat niemals von unserer Seite Informationen erhalten, mit denen er unseren Bündnispartnern hätte schaden können!“ (S. 234) Das Problem ist, dass hier zwei vollkommen unterschiedliche Textformen vermischt werden, ohne dass der Leser hiervon erfährt. Auf der einen Seite das Interview, ein Gespräch zwischen einem Zeitzeugen und einem kritischen Journalisten, und auf der anderen Seite die Autobiografie, in der der Zeitzeuge ohne kritische Nachfragen seine Vergangenheit (re)konstruieren kann.

2. Aus Zeitzeugen werden Schauspieler

Die Darstellung der Zeitzeugen-Interviews in „Die Sache mit Sorge“ folgt der Bildsprache gängiger Geschichtsdokumentationen im TV. Und auch bei Guido Knopp & Co. ist nicht alles eitel Sonnenschein. So werden einige Zeitzeugen-Aussagen im TV derart zusammengeschnitten, dass man sie nur noch als Stichwortgeber für anschließende Ansagetexte oder Schauspielszenen bezeichnen kann. Isabel Kreitz geht hier sogar noch einen Schritt weiter. Da es kein Originalmaterial gibt, welches sie für den Comic zurechtschneiden könnte, legt sie den Zeitzeugen genau das in den Mund, was die Geschichte an der jeweiligen Stelle braucht. Das Problem ist, dass der Leser nicht beurteilen kann, wie frei die Autorin mit den Zeitzeugen umgeht; wann aus Zeitzeugen Schauspieler werden. Fest steht nur eins: Die Zeitzeugen-Interviews haben so nie stattgefunden.

Fazit

Wie heißt es bei Spider Man so schön? „Aus großer Macht wächst große Verantwortung!“ Das gilt auch für den Umgang mit Zeitzeugen-Interviews im Comic. Ich finde es vollkommen legitim Zeitzeugen-Interviews als erzählerisches Element einzusetzen, nur sollte der Autor oder in diesem Fall die Autorin aufpassen, dass aus dokumentarischem Sein kein dokumentarischer Schein wird. Sich einerseits an der Authentizität der Zeitzeugen zu bedienen, ohne andererseits die nötige Sorgfalt im Umgang mit den Quellen mitzubringen, kann nicht gut gehen. Im Fall von „Die Sache mit Sorge“ kommt erschwerend hinzu, dass die Leser über den extrem freien Umgang mit den Zeitzeugen-Texten im Dunklen gelassen werden. Und so kann das Buch von Isabel Kreitz in dieser Sache leider nur Denkanstoß sein, Vorbild für den Umgang mit Zeitzeugen-Interviews ist der Comic nicht.

*: Der einzige Farbtupfer ist das Rot des Buchrückens und der Titelschrift, welches zusammen mit den vielen Weißflächen und dem schwarzen Untertitel auf die Farben der Hakenkreuzflagge verweist.
**: Die Hardcoverausgabe enthält zusätzlich noch durch eine politische Karte Ostasiens, auf der Japans Feldzüge im Pazifik und auf dem asiatischen Kontinent dargestellt sind.

Weiterführende Links

 

Bildnachweis / verwendete Ausgabe: „Die Sache mit Sorge – Stalins Spion in Tokio“ von Isabel Kreitz, Paperback-Edition, 2008 bei Carlsen erschienen.